Jänner 2007 www.initiative.cc

Deutschland
aus der Sicht eines Afrikaners !


Die Briefe des Lukanga Mukara sind eine Kulturkritik ganz besonderer Art, denn in ihnen schildert der Diener am Hofe des Königs Ruoma im Lande Kitara (an der Grenze von Uganda zum Kongo gelegen) seine Eindrücke, die er im Zuge seiner Forschungsreise ins Innerste Deutschlands im Jahre 1912 sammeln durfte. Seine Beobachtungsgabe, die Klarheit seines Blicks und die Nacktheit seines Urteils vermitteln uns eine neue Sicht auf viele Dinge, die uns als gegeben, gut und normal erscheinen.
Die Briefe wurden vor dem Ersten Weltkrieg in der Zeitschrift "Der Vortrupp" vom Quergeist, Provokateur, Lebensreformer, Pazifist, Afrikareisenden und "Weltverbesserer" Hans Paasche (1881-1922) veröffentlicht und erregten damals großes - nicht unbedingt zustimmendes - öffentliches Aufsehen!

Keinesfalls wollen wir durch die Veröffentlichung dieser Briefe die deutsche Kultur verspotten oder jene Kitaras verherrlichen. Wir finden aber, dass die insgesamt neun Briefe Lukangas einen unvergleichlich wertvollen Schatz darstellen, aus dem wir in heutiger Zeit Vieles und Wesentliches lernen können, indem wir die Errungenschaften unser westlichen Zivilisation einmal durch die Augen eines Menschen betrachten, der nicht an "Betriebsblindheit" leidet.

Einen Link zu den anderen Briefen finden Sie siehe am Ende dieses Artikels

Der zweite Brief

Der 2. Brief

Birkhain, den 20. Mai 1912.

Leuchtender Kigeri!

Ich bin an einem Platze, der einsam ist. Hügel mit Büschen umgeben mich. Ein See liegt zwischen hohen Bäumen, im Schilf seiner Ufer schwimmen Enten. Im flachen Wasser stehen Kraniche, und hoch in der Luft fliegen zwei Störche, die jetzt gerade aus Kitara herübergekommen sind, wo sie die Zeit zubrachten, in der es hier bitter kalt ist und Schnee und Eis mannshoch auf dem Lande liegen, wie Du es kennst von dem Gipfel des Karissimbi. Das wilde Getriebe der Städte dringt nicht hierher, und ich könnte mir denken, ich sei in Kitara, am Ufer des Ruhiga, an den weiten Buchten des Urigi, wo der Schrei der Kronenkraniche weithin ertönt, wenn sie mit langsamem Flügelschlage über die reifen Kornfelder dahinfliegen. Es ist derselbe Schrei, den ich hier höre. Der Vogel aber sieht anders aus: ihm fehlt die buschige Krone, fehlt die weiße Brust. Bronzerot schimmert dennoch sein Hinterhaupt. Hierher bin ich gegangen, weil ich wirr wurde im Kopfe über das Neue und Widersprechende, was ich in diesem fremden Lande sah, und weil ich Ruhe haben wollte vor dem Lärm.
Strahlender Fürst! Wenn ich unter den Tausenden engbekleideter Wasungu (= Europäer) einherging oder nachts aus Träumen erwachte, dann war mir oft, als hätte ich Pombe getrunken. (Wie einst, als mir Ibrahimu noch nichts von seiner Lehre gesagt hatte, die den Rausch eines Menschen für unwürdig hält.) Über diesem Lande liegt etwas, wie ein großer Trug. Man sagt in Kitara: wo zwischen den Bergen Rauch aufsteigt, da sei eines Wanderers Ziel, denn da gibt es Wärme und warme Speise. Ein Handwerker brennt Schnitzwerk aus, die Eisenschmelzer sitzen in freier Luft an den Blasebälgen oder ein Schmied schmiedet Speerspitzen, Hacken und Nadeln. Drum ist dort ein reges Leben, und viele Menschen kommen und freuen sich über die Kraft und Kunst, die dem Volke innewohnt. Wenn ein Schmied von der Arbeit aufsteht, dann rühmt man die breiten Schultern fast mehr als die geschickten Hände.

In Deutschland ist sehr viel Rauch. Aber das ist kein Rauch, der eines Wanderers Augen auf sich zieht, der die Schritte beschleunigt oder das Herz höher schlagen läßt. Es ist kein Rauch in frischer Luft; es ist Rauch im Dunst, ja Rauch im Rauch. In langen, steinernen Röhren wird er zum Himmel geleitet. Aber der Himmel will ihn nicht, und so liegt er wie ein Frühnebel über der Erde. Und wenn er, als eine dicke, atemraubende Masse überallhin fließt, wie soll man irgendwohin eilen, sich seines Ursprungs zu freuen! Im Gegenteil: wer sich die Lungen nicht mit Rauch füllen lassen will, flieht die Plätze, an denen die vielen Eingeborenen zusammenwohnen, flieht auf das Land hinaus, wo die Luft noch rein und frisch ist. Denn unerträglich ist die Luft, die die Wasungu sich gewöhnen einzuatmen. Sie lieben es, zur Arbeit, zum Vergnügen, zum Unterricht, ja zum Gottesdienst in geschlossenen Räumen beisammen zu sein. Stundenlang. Jeder atmet Luft, die schon ein anderer geatmet hat. Dahinein mischt sich Rauch, Dunst und Essensgeruch. Es müssen viele von ihnen krank sein. Ich weiß das nicht; denn ich sehe nur gesunde Leute in den Straßen und glaube, daß sie die Kranken an einen anderen Platz schaffen.
Ich ging einem großen Rauch nach und kam in einen Trupp von Leuten, die denselben Weg gingen. Es waren Männer und Frauen, die alle nicht froh aussahen. Ich fragte einen jungen Sungu (=Europäer, Wa-sungu =Mehrzahl von Sungu) weshalb er so schnell gehe, ob es da, wo er hingehe, etwas Schönes zu sehen gebe? Er lachte spöttisch und unfreundlich und sagte, er gehe zur Arbeit, und wenn er zu spät komme, schelte "der Alte". Und der Eilige hatte nicht Zeit, mit mir weiter zu sprechen.

Eile überall

Es gibt überhaupt keinen Sungu, der es nicht eilig hat. Jeder hat immer etwas vor, und jetzt weiß ich auch, weshalb der Sungu, der Kitara bereiste, die Männer so oft fragte: "Was arbeitest du?" Und weshalb er sich erregte, wenn er die Antwort bekam: "Tinkora mlimô mingikala". "Ich arbeite nicht; ich bin vorhanden". Das erboste ihn, weil es in Deutschland keinen Mann gibt, der ohne Arbeit zufrieden sein dürfe, es sei denn, er habe viel Geld. Sie arbeiten alle, weil sie Geld haben wollen. Und wenn sie Geld haben, benutzen sie es nicht dazu, sich Glück zu verschaffen, was ja nichts kosten würde, sondern sie lassen sich von anderen, die Geld gewinnen wollen, einreden, sie müßten, um glücklich zu sein, alle möglichen Dinge kaufen, Dinge, die ganz unnütz sind und da gemacht werden, wo der Rauch aufsteigt.

Ich glaube, ein Mann, der mit wenigem auskommt und nichts kauft, ist in Deutschland nicht angesehen. Ein Mann aber, der sich mit tausend Dingen umgibt, die er aufbewahren, beschützen, verschließen und reinigen, ja, die er täglich ansehen muß, der gilt etwas. Und solch ein Mann kann doch zu nichts Rechtem Zeit haben, er kann auch nichts Nützliches tun. Er wird immer auf seinen Sachen sitzen müssen, anstatt in die Welt hinauszugehen und Lieder kennenzulernen. Dazu gehört in Kitara nur ein Stock, ein geflochtener Beutel mit zwei Hölzern zum Feuerreiben und eine Zupfgeige. Wer das an sich nimmt, kann reisen, und wenn er, nach Monden, heimkommt, von den Tänzen und Liedern fremder Völker erzählen, von der Art, wie andere Völker den Elefanten jagen und wie sie die reifen Jungfrauen schmücken.
Das ist der Irrtum, der über dem Lande liegt: auch in Deutschland mag einst Rauch den Ort glücklichen Schaffens angezeigt haben; jetzt ist das vorbei. Zum Fluch wurde die Arbeitskraft, die das Feuer erzeugt, elende Sklaven sind die Eingeborenen, die mit der Kraft des Feuers arbeiten. Das sah ich, als ich dem Rauch nachging. In furchtbarem Lärm, der größer ist als die Gewitter des Frühlings, stehen Männer und Frauen und bewegen ihre Hände an den Maschinen. Sie stehen da, in schlechter Luft, in geschlossenem Raum und am ganzen Körper bekleidet. Sie machen eine Arbeit, die nie fertig wird, machen jahrelang dieselbe Arbeit. Wie viel besser ist es doch in Kitara! Da hat jede Jahreszeit ihre besondere Arbeit, und niemand braucht das ganze Jahr über am Blasebalg zu stehen oder Rindenstoff zu klopfen. Zur Bestellung des Landes müssen die Hacken fertig sein. Vorher hämmern die Schmiede und vor den Schmieden wird das Eisen ausgeschmolzen. Der Rauch verzieht sich wieder, und die zartesten Pflanzen wachsen um den Hochofen herum. Und auch die Lungen der Menschen werden wieder rein.

Kleidung

Ich sagte, die Eingeborenen trügen sogar bei der Arbeit Kleider. Es ist so, und es wundert mich immer wieder. Alle Eingeborenen gehen nur bekleidet umher, und selbst zum Baden ziehen sie ein dünnes Kleid an. Niemand hat das Recht, nackt zu gehen, ja niemand findet es anstößig und gemein, Kleider zu tragen. Selbst der König des Landes unterwirft sich dem Zwang der Kleidung. An dem Körper trägt er dicke, genähte Stoffe, den Kopf bedeckt er, und die Füße umkleidet er mit genähtem Kalbfell. Wie groß und erhaben bist Du doch, Mukama, gegen ihn! Dein Kleid ist ein Bastfaden, an dem zwei geschnitzte Hörner eines Buschbocks hängen; ein gestreiftes Ziegenfell bedeckt Deine linke Hüfte. Frei atmet Deine Brust, die Sonne bescheint Deine glatte Haut, und Dein nackter Fuß berührt die fruchtbare Erde.
So gehe auch ich hier jetzt unbekleidet im Sande umher, wo mich keine Eingeborenen sehen. Wenn sie mich nackt sähen, würden sie mich verfolgen. Auch ich muß in diesem Lande Kleider tragen, wenn ich das Volk nicht aufreizen will. Es ist eine Qual für Deinen freien Diener, ein Schmerz und eine Gefahr, die er nur auf sich nimmt um der Forschung willen und für die Wissenschaft Kitaras.

Du glaubst gewiß, die Bewohner des Landes außerhalb der großen Städte gingen nackt einher: nein, auch sie bekleiden sich vom Kopf bis zu den Füßen, und vor allem sieht man nie einen Mann, der keinen Hut auf dem Kopfe trüge. Wenn jemand in einer Stadt ohne Hut ginge, würden die Eingeborenen scharenweise hinter ihm herlaufen und ihn verspotten. Der Hut ist das Zeichen der Würde, und wenn er auch nur aus einem schmutzigen, schweißdurchtränkten Bündel Zeug besteht, es gilt als vornehm, ihn zu tragen. So kommt es, daß den meisten Wasungu die Kopfhaare aus Mangel an Licht und Luft wegfaulen und der Kopf kahl wird. Das ist denn auch eine große Sorge aller Männer, und sie geben viel Geld aus bei Leuten, die mit der Pflege des Kopfhaares anderer Eingeborener Geld verdienen wollen. Dort lassen sie sich viele verschiedene Flüssigkeiten empfehlen und verkaufen. Nur das eine tun sie nicht, was nichts kostet und in Deutschland wie in Kitara von dem ärmsten Manne am leichtesten gebraucht werden kann: keinen Hut auf den Kopf zu tun.

Die Wasungu (Europäer) sagen, man gebrauche einen Hut, um den Kopf zu wärmen und zu schützen und um damit zu grüßen. Ihr Gruß besteht nämlich darin, daß sie den Hut einmal vom Kopf herunternehmen und wieder hinauftun. Hinknien und in die Hände klatschen ist als Gruß ganz unbekannt.

Was sie an Kleidern am Körper tragen sollen, schreiben die Handwerker vor, die die Kleider nähen, und besonders die reichen Eingeborenen folgen ihnen darin unbedingt. Wenn Du etwa meinst, ein kräftiger, schöner und geschmeidiger Körper komme in einem solchen Kleide zum Ausdruck, irrst Du. Die Kleider der Männer werden so gemacht, daß jeder Schwache ebenso aussieht wie ein sehniger Mann, und daß kein Mann den Wunsch hat, seinen Körper zu verbessern oder sich davor bewahrt, den Leib zu entstellen: die Kleider verdecken jede Schwäche. Selbst die Frauen sehen bei der Wahl der Männer nicht auf die Schönheit und Kraft des Körpers, sondern auf die Form und den Wert der Kleider und des Hutes. Die Frauen wissen gar nicht, wie ein schöner, gebildeter Körper aussieht. Sie heiraten dann einen Anzug und zugleich den Mann, der darin steckt. Die Unsitte der Kleider bringt es auch mit sich, daß die Männer und Frauen der Wasungu heiraten, ohne voneinander zu wissen, wie sie nackt aussehen. Das würde in Kitara als Schande und niedrigste Gemeinheit angesehen werden, wenn es je vorkäme. Es wäre ein Verbrechen an der Zukunft des Volkes. In Deutschland gilt es als anständig.

Du wirst, großer König, wissen wollen, was ich selbst an meinem Körper trage, um unbelästigt durch die Städte der Eingeborenen zu gehen, und wie ich den Schmutz der Kleider ertrage?

Hans Paasche 1881-1922

Am Morgen nach dem Bade reibe ich die Haut mit Öl ein und ziehe Unter- und Oberkleider an. Die Unterkleider werden durch Bänder über den Schultern festgehalten. Das ist ein Schmerz, weil der Druck dieser Bänder den Oberkörper zusammenbiegt. Viele Wasungu sind dadurch gekrümmt, und ihr Rücken tritt weit hervor. Um den Hals knöpfe ich einen steifen Ring aus Pflanzenfasern, eine furchtbare Erfindung, die um so unverständlicher ist, als die Wasungu die Kunst, weiche Gewebe herzustellen, meisterhaft verstehn.

Über die Füße streifen die Wasungu enge Gewebe aus Schafwolle, wodurch sie die Zehen gewaltsam zusammenpressen, so daß es ihnen unmöglich gemacht wird, sicher zu gehen. Ich hielt den Schmerz nicht aus, als ich es versuchte, die Gewebe an den Füßen zu tragen, und habe den unteren Teil dieser Kleidungsstücke abgeschnitten, was niemand sehen kann, weil die ganzen Füße in Lederhülsen stecken, die dicht geschlossen sind. Diese Schuhe spielen in der Bekleidung eine große Rolle. Es klingt unglaublich: auch die Form der Schuhe wechselt nach der Laune und dem Willen der Handwerker, und der Fuß der Eingeborenen muß die seltsamsten Formen annehmen, um in die Schuhe hineingepreßt zu werden. Ich selbst habe mir von einem Handwerker Schuhe nähen lassen, die so groß sind, daß ich meine Zehen darin frei bewegen kann.

Die Wasungu ziehen ihre Schuhe nicht aus, wenn sie in die Häuser hineingehen, sie baden ihre Füße nicht, bevor sie eintreten, sie halten aber darauf, daß das Äußere der Schuhe schön blank geputzt ist. Es wird mehr Mühe verwandt auf die Bereitung von Mitteln zum Putzen der Schuhe, als auf Einrichtungen, die Füße selbst schön zu bilden und gesund zu erhalten.

Wenn ich in meinen Schuhen gegangen bin und in mein Haus komme, dann ist mir jedesmal, als müßte ich die Schuhe ausziehen, vor der Türe ein Fußbad finden und eine Bank zum Sitzen, und ein Diener müßte kommen und mir die Füße waschen und ölen. Nichts von dem: an Plätzen, wo besondere Räume zum Warten eingerichtet sind, findet man Bücher zum Lesen und kann viele seltsame Dinge kaufen, die jeder Wanderer entbehren kann und ohne die Kitara noch heute auskommt; doch ist keine Gelegenheit, in der Zeit des Wartens ein Fußbad zu nehmen. Es hat auch kein Eingeborener den Wunsch, das zu tun, und so gehen sie denn vom Morgen bis zum Abend in denselben Kleidern und Schuhen und mit demselben Hut auf dem Kopfe, und weil sie am nächsten Tage dieselben Kleider anziehen wollen, dürfen sie nicht allzusehr schwitzen. Deshalb und um ihre Kleider zu schonen, müssen sie langsam gehen. Laufen ist nur den Kindern erlaubt. Die Erwachsenen laufen nie, weil sie aber immer Eile haben, gehen sie auch nicht: sie fahren. Durch den Mangel an Bewegung verändert sich ihr Körper so sehr, daß sie sich nackt nicht mehr zeigen könnten, selbst wenn es Sitte wäre, ohne Kleider zu gehen, und viele Männer sehen aus wie gemästete Hunde oder wie die Flußpferde von Ukonse.

Du fragst nach den Kriegern des Landes und nach den Frauen? Davon erzähle ich Dir später. Es sind große Entbehrungen, die ich ertrage, um meinen Auftrag zu erfüllen, dies Land zu erforschen. Die Sitten des Volkes bedrohen mich und meine Gesundheit. Was mein Körper von außen erfährt, und auch, was ich gezwungen bin, innen hineinzutun, während ich hier lebe, das schädigt mich.
Zwei Dinge nur begleiteten mich von der Heimat hierher: die Sonne, die meinen Rücken mit ihren Strahlen erwärmt und jener große Vogel, der früher als ich nach Kitara zurückkehren und meinem Könige Grüße bringen wird von seinem Diener Lukanga Mukara

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