Juli 2015 www.initiative.cc

Das neue Russland
Eine sehr persönliche Betrachtung

F. William Engdahl / Quelle: Kopp Verlag

Mein erster Russlandbesuch liegt 20 Jahre zurück; im Mai 1994 war ich von einer Moskauer Denkfabrik für Wirtschaftsfragen eingeladen worden, einen kritischen Vortrag über den IWF zu halten. Damals machte Russland auf mich den Eindruck einer ehemaligen Großmacht, die zutiefst erniedrigt worden war. Mafia-Gangster rasten in ihren blitzenden, nagelneuen Mercedes mit verdunkelten Scheiben und ohne Nummernschilder über die breiten Moskauer Boulevards. Gesetzlosigkeit herrschte allerorten – vom US-gestützten Kreml unter Jelzin bis auf die Straßen. Überall in der Stadt schwirrten Harvard-Boys herum, die im Auftrag ihrer Wall-Street-Sponsoren nach neuen Wegen suchten, Russland zu berauben.

Russland erwacht


Das Ausmaß des Traumas, das der völlige Zusammenbruch des Lebens in Russland nach dem November 1989 auslöste, war erschütternd. Ich sah es in den Augen ganz normaler Menschen auf den Straßen Moskaus, der Taxifahrer, der Mütter, die ihre Einkäufe erledigten.

Heute, gut 20 Jahre später, ist Russland erneut mit einem westlichen Gegner, dieses Mal der NATO, konfrontiert, die das Land nicht nur erniedrigen, sondern als funktionierenden Staat zerstören will – einen Staat, der in der Lage ist, den westlichen Eliten hinter den Kriegen in der Ukraine, in Syrien, Libyen, dem Irak, Afghanistan, Afrika und Südamerika einen dicken Strich durch die Rechnung zu machen. Vielleicht ist es nützlich, wenn ich die Lage aus der Sicht eines amerikanischen Beobachters beschreibe: Sie ist nicht so düster, wie man angesichts der neuen »Verteufelung« Russlands durch amerikanische und europäische Medien und Regierungen meinen sollte.

Die Zwischengeneration

Ich glaube, es ist der richtige Moment für einige sehr persönliche Betrachtungen über das Neue Russland – wie ich es nenne – und die Generation der Neuen Russen, die nach 1980 geboren wurden und aufwuchsen, ohne sich der verheerenden Opfer der Stalin-Zeit oder des Zweiten Weltkriegs wirklich bewusst zu sein.

Von dieser Generation wird es nun abhängen, ob es Russland gelingt, als entscheidender Faktor die Welt von der Schwelle eines neuen Weltkriegs zurück zu führen. Dieser Krieg wäre – nach Washingtons Einmischung in die Ukraine – vermutlich ein Weltkrieg, der von psychopathischen superreichen »Oligarchen« entfacht würde, die ihre Macht, die Macht des Dollars und der Megabanken an der Wall Street, die Macht des militärisch-industriellen Komplexes im Pentagon, schwinden sieht, weil die Welt intelligenter wird.

Da mir kein besserer Begriff einfällt, nenne ich die Generation der nach 1980 Geborenen die »Zwischengeneration«. Sie wurden in den letzten Jahren des kollabierenden alten Sowjetsystems geboren. Ronald Reagans »Krieg der Sterne« und der US-geführte Krieg in Afghanistan hatten das Land erschöpft. Die Berliner Mauer »fiel« im November 1989. Die Zwischengeneration war kaum älter als zehn, als die Sowjetunion und die Illusion der Stabilität für sie und ihre Eltern zusammenbrachen.

1999 nahmen die Dinge nach acht Jahren der Plünderung und Zerstörung durch den IWF, westliche multinationale Konzerne und vor allem die »Freimarkt«-Anhänger um Boris Jelzin eine neue Wende, als mit Wladimir Putin ein neues junges Gesicht auftauchte.

Inzwischen erweist sich Putin als einer der wenigen kompetenten Staatsmänner in einer Welt, in der es praktisch keinen Staatslenker von der Statur eines Charles de Gaulle, Willy Brandt oder auch John F. Kennedy mehr gibt. Und die Zwischengeneration ist in einer Atmosphäre aufgewachsen, wo in der russischen Gesellschaft viele neue Abenteuer ausprobiert werden konnten, wo die eigene Intelligenz über Erfolg oder Scheitern entschied, wo schrittweise ein neues Russland entstand, das hoffen konnte, wieder als große Nation handeln zu können und international respektiert zu werden.

Was diese Generation, die heute in den Dreißigern ist, in meinen Augen auszeichnet, ist ihr Charakter als hybride Generation. Die Ausbildung, die sie in den Schulen und Universitäten erhielt, war immer noch weitgehend von der klassischen russischen Wissenschaft geprägt. Sie war, wie mir in vielen Diskussionen mit befreundeten russischen Wissenschaftlern im Laufe der Jahre immer wieder bestätigt wurde, von einer Qualität, die man in der pragmatisch orientierten westlichen Welt kaum kennt. Ein amerikanischer Physikprofessor vom MIT, der Anfang der 1990er Jahre in Moskau lehrte, sagte mir: »Wenn ein russischer Student der Naturwissenschaften an die Universität kommt, hat er bereits vier Jahre Biologie, vier Jahre Chemie und Physik, Integral- und Differenzialrechnung, Geometrie hinter sich … sie beginnen ihr Studium auf einem Niveau, das mit dem eines amerikanischen Postdoktoranden vergleichbar ist.«

Sie wuchsen in einem Russland auf, wo es für junge Mädchen normal war, klassisches Ballett oder Tanz zu lernen, wo alle Kinder Klavier oder ein Musikinstrument spielen lernten, Sport trieben, malten, genauso wie in der Erziehung im klassischen Griechenland oder im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Diese Grundlagen, die bis in die 1950er Jahre hinein auch Unterrichtsstoff amerikanischer Schulen waren, wurden dort in den 1980ern fast völlig aufgegeben. Die amerikanische Industrie wollte gefügige, »verdummte« Arbeiter, die keine Fragen stellten.

Russische Biologie, russische Mathematik, Physik, Astrophysik, Geophysik – alle Disziplinen gingen an ihren Gegenstand mit einer Qualität heran, die aus der amerikanischen Wissenschaft längst verschwunden war. Ich weiß das, denn ich bin in den 1950er Jahren in der Zeit der »Sputnik-Schocks« aufgewachsen, als man uns als Oberschülern erklärte, wir müssten härter arbeiten, um »mit den Russen gleichzuziehen«. Darin steckte ein Körnchen Wahrheit, aber der Unterschied lag nicht darin, dass die amerikanischen Studenten nicht hart genug arbeiteten; wir lernten und studierten durchaus ernsthaft und gaben uns viel Mühe. Die Qualität der wissenschaftlichen Ausbildung war in Russland einfach besser.

Insbesondere der naturwissenschaftliche Unterricht in Russland oder der Sowjetunion war stark vom deutschen Erziehungssystem des 19. Jahrhunderts, den so genannten Humboldt-Reformen Wilhelm von Humboldts, seines Bruders Alexander und anderer beeinflusst. Irgendwann, bereits in der Zarenzeit, erkannte der russische Staat, dass das deutsche klassische System dem britischen Empirismus und Reduktionismus überlegen war.

Russen kehren zurück

Ich habe Russen aus der 1980er Generation oft gefragt, warum sie nach Russland zurückkehrten, nachdem sie in den USA gelebt hatten. Die Antwort lautete fast immer: »Die Ausbildung in den USA war so langweilig, es gab keine Herausforderung … die amerikanischen Studenten waren so oberflächlich, sie hatten keine Ahnung über irgendetwas außerhalb des eigenen Landes … bei allen Problemen habe ich beschlossen, zurückzukommen und beim Aufbau eines neuen Russlands zu helfen …«

Einige persönliche Beispiele illustrieren, was ich fand: Irina ging Anfang der 1990er Jahre mit ihren Eltern nach Oregon. Ihr Vater war hochrangiger Militär der UdSSR. Nach deren Zusammenbruch wurde er in Pension geschickt, er wollte Russland, die Erinnerungen an den Krieg, hinter sich lassen und seine letzten Lebensjahre friedlich in Oregon verbringen. Seine Tochter wuchs dort auf, besuchte das College und begriff schließlich, dass sie in Russland viel mehr sie selbst sein konnte; dort leistet sie heute einen enormen Beitrag zum Weltfrieden.

Konstantin ging in jungen Jahren in die USA, um dort als Fernsehjournalist zu arbeiten, er erwarb in New York einen Master in Filmproduktion und beschloss, nach Russland zurückzukehren, wo er heute wertvolle Fernsehdokumentationen erstellt. Natascha, heute 28 Jahre alt, die Tochter eines lieben Freundes, war in Deutschland, kehrte aber nach Moskau zurück, wo sie in einer Bank arbeitet; sie spricht sieben Sprachen und könnte sich problemlos überall für eine Arbeitsstelle bewerben. Anton blieb in Russland, er stieg ins Verlagswesen für wissenschaftliche und ökonomische Werke ein und nutzte seine IT-Kenntnisse zur Gründung eines eigenen Verlags. Dmitri, der an einer renommierten deutschen Universität Physik unterrichtete, ging zurück in seine Heimatstadt St. Petersburg, wo er heute als Professor lehrt; seine Frau, ebenfalls Physikerin, arbeitet als Übersetzerin und managt eine russischsprachige Website.

All diesen russischen Bekannten, die meisten sind jetzt Mitte 30, ist diese besondere Qualität der Zwischengeneration gemein. Sie wurden geboren, als die Überreste des alten Sowjetrusslands noch sichtbar waren – im Guten wie im Schlechten –, aber erwachsen wurden sie erst nach 1991. Diese Generation versteht Entwicklung, Fortschritt und die Veränderung ihres Lebens, die sich für die Zukunft Russlands als unschätzbar wichtig erweisen wird.

Durch Familie und frühe Kindheit sind sie, genauso wie Wladimir Putin, auch im alten Russland verwurzelt, kennen also die Realität von alt und neu. Alle aus dieser Generation können ehrlich betrachten, was wertvoll war und was tödlich – wie die von der Stalin-Sowjetära geerbte lähmende Bürokratie. Sie sind in der einmaligen Lage, beides zu integrieren und ein Russland zu formen, das einen Beitrag zum Weltfrieden leisten kann, der weit über das hinausgeht, als sie sich vielleicht selbst vorstellen. Davon bin ich zumindest aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen fest überzeugt.

Sie tragen große Verantwortung, verfügen aber auch über die nötigen Fähigkeiten, um diese Herausforderung zu meistern. Das finde ich so ermutigend an den Russen aus der Zwischengeneration der nach 1980 Geborenen.

Quelle des Artikels: http://info.kopp-verlag.de/hintergruende/europa/f-william-engdahl/das-neue-russland-eine-sehr-persoenliche-betrachtung.html

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