September 2010 www.initiative.cc

Wie viel Elend ist mein T-Shirt wert ?
Über die Ausbeutung bei der Kleidungsherstellung

An unseren modischen Kleidern, die im Zeitalter der Globalisierung immer billiger werden, kleben Tränen, Schweiß, und manchmal gar Blut. Dem müßte nicht sein: Mit nur ein paar Cents höheren Löhnen könnten sich die TextilarbeiterInnen in der „Dritten Welt“ aus ihrer sklavenartigen Existenz befreien.
Quelle: Zeitenschrift 55/2007 - www.zeitenschrift.ch

Von Ursula Seiler

Wer durch die Innenstädte spaziert, könnte meinen, hier lebe ein Volk von Neandertalern, das nackt durch die Wälder spaziert und erst noch lernen muß, seine Blöße zu bedecken. So viele Kleider hängen, liegen, stapeln sich in den Geschäften. Und das alles für Menschen, deren Schränke schon platzen! Doch natürlich geht’s bei der Mode längst nicht mehr um Notwendigkeiten. Mode ist zu einem Freizeitfüller geworden, und öfters schon zu einer Sucht. Und weil’s das Portemonnaie sprengen würde, jedes Wochenende einen Tausender für edle Ware hinzulegen, muß es das Sweatshirt für 19.90 Euro tun, oder drei T-Shirts für nur 15 Euros. Dann liegen auch noch die 100 Euro für Marken-Sportschuhe drin – man gönnt sich ja sonst nichts! Und mit einer Seele, die für armselige drei Stunden selig schnurrt, kehrt man mit seinen Jagdtrophäen nach Hause zurück.

Ist es nicht großartig, daß Kleider im Gegensatz zu Wohnungsmieten, Benzin oder Krankenkassenprämien in den letzten Jahrzehnten drastisch billiger geworden sind? Ist es nicht herrlich, daß in manchen Geschäften alle drei Wochen neue Kollektionen liegen, die fast nichts kosten? Wie haben die Menschen früher bloß ihre arbeitsfreien Tage gefüllt? Was würde man mit seiner Zeit anfangen, wenn man sich nicht alle paar Wochen ein völlig neues Image stylen könnte? Vor Langeweile versauern! Kauft man sich doch mit den Klamotten nicht nur eine Textilie, sondern ein Lebensgefühl, ein Image, einen Hauch Glamour, von der Werbung gekonnt verkauft.
Selbst ökobewußte Menschen werden, wenn’s um Mode geht, total naiv. Keinen Augenblick fragen sie sich, wie es möglich ist, daß ein T-Shirt für fünf Franken oder Euro offensichtlich gewinnbringend verkauft werden kann – wo dafür doch Baumwolle angebaut und geerntet, der Stoff gewoben und das Teil gefärbt, zusammengenäht, verpackt, und meist um den halben Erdball transportiert werden mußte? Vermutlich verleiten die trendigen Innenleben der Modegeschäfte die Konsumenten zur Annahme, die feilgebotene Mode würde – ähnlich wie Autos – von Robotermaschinen in hygienischen Hightechfabriken gefertigt – genauso stylisch und cool, wie sie sich dann in der Auslage präsentiert. Doch an so manchem schicken Teil kleben in Wahrheit Blut, Schweiß und Tränen.

Sklavenähnliche Zustände

Was die Deklarationspflicht angeht, sind Textilien Ödland. Wenn Sie Bio-Tomaten kaufen wollen, müssen Sie einfach in die Bioabteilung oder direkt in den Naturkostladen gehen. Wenn Sie menschenwürdig produzierte Kleidung aus ökologischem Anbau erstehen möchten, stehen Sie meist auf verlorenem Posten. Die meisten Konsumenten würden ent set zt zurückweichen, wüßten sie, unter welchen Bedingungen viel von der Ware, die da so sauber, adrett und öfters auch mit einem guten Markenlabel versehen in den Läden hängt, hergestellt worden ist.
In China, einem der Haupt-Kleiderfabrikanten der Welt, bestehen Fabriken oft aus drei Teilen: einem Lager, einer Produktionsstätte und den Schlafsälen der Arbeiterinnen. Die Frauen leben dort wie in Kasernen; ein Leben außerhalb der Fabrik gibt es für sie kaum.
Eine Zulieferfirma bekannter Sportartikelmarken traktierte ihre Arbeiterinnen mit miserablen Arbeitsbedingungen. Eine der Angestellten, Julia Esmeralda, klagt: „Man schwitzt und trocknet aus. Der Staub verstopft die Nase. Um Wasser zu trinken oder auf die Toilette zu gehen, braucht man eine Erlaubnis. Dort überprüfen Sicherheitskräfte den Firmenausweis, da man nicht öfter als ein- oder zweimal täglich austreten darf. Die Anlagen sind verschmutzt, es gibt kein Toilettenpapier. Auch das Trinkwasser ist nicht gereinigt. Beim Verlassen der Fabrik mußten wir entwürdigende Durchsuchungen über uns ergehen lassen. Die weiblichen Sicherheitskräfte, die uns Frauen durchsucht haben, fassen dich überall an“, klagte Julia Esmeralda Pleites über die Bedingungen bei der Firma Formosa in El Salvador, wo sie laut Das neue Schwarzbuch Markenfirmen von Klaus Werner und Hans Weiß Shirts für Nike und Adidas näht. „Für fünf Euro am Tag. 2,55 Euro am Tag bezahlen die Näherinnen fürs Kantinenessen: zum Frühstück Bohnen und Kaffee, mittags ein Stück Hühnerfleisch mit Reis. Für die zwölf Quadratmeter große Wohnung, die Julia Pleites gemeinsam mit ihrer Mutter und der dreijährigen Tochter bewohnt, kommen Monat für Monat noch einmal 35 Euro dazu. Der Bus zum Arbeitsplatz kostet 77 Cent, hin und zurück. Weil ihr eines Tages das Geld dafür fehlte und sie deshalb zu spät kam, wurde die 22jährige gefeuert. Auf der Stelle. Und ohne den restlichen Lohn zu erhalten. ‚Wir müssen uns Geld ausleihen, um zu überleben’, sagt die junge Frau, die nicht mehr weiß, wie sie ihre Schulden bezahlen soll. Dabei hätte sie gerne etwas zusammengespart, damit ihre Tochter einmal eine Schule besuchen kann“, schreiben Werner und Weiß in ihrem Schwarzbuch.

In Indonesien haben Frauen das staatlich verbriefte Recht, während der Menstruation zwei Tage unbezahlt der Arbeit fernbleiben zu dürfen, da der Zugang zu den Fabriktoiletten beschränkt ist und die meisten Frauen weder Hygieneartikel noch Schmerzmittel bezahlen können. Die meisten Frauen verzichten auf dieses Recht, da sie Sanktionen des Betriebs befürchten. Während ihrer Tage tragen daher Zehntausende Näherinnen dunkle Unterwäsche und lange Blusen, damit man die Blutflecken auf der Kleidung nicht sieht.
Im Jahr 2000 beschwerte die Thailänderin Suthasini Kaewlekai bei Buchautor Klaus Werner, daß sie nur den Mindestlohn von 162 Baath am Tag erhalte – umgerechnet ca. 4,80 Euro. „Leben kann man davon nicht. Und Sozialversicherung gibt es auch keine. Dabei hat uns das Management 300 Baath (8,90 Euro) am Tag und elf Tage Urlaub im Jahr zugesichert. Doch monatelang wurde uns nicht einmal der normale Lohn gezahlt.“ Gemeinsam mit Kolleginnen ging sie deshalb vor Gericht – um Unglaubliches zu erleben. Nicht nur empfahl der Richter ihnen, sich mit vierzig Prozent des zugesagten Lohnes zufriedenzugeben, da das Unternehmen in einer Finanzkrise stecke, nein, er gab noch eins obendrauf, als die Frauen nicht einlenken wollten: „Ihr seid dickköpfig. Wenn ich euer Arbeitgeber wäre, ich würde euch nicht nur entlassen. Ich würde mir jemanden suchen, der euch den Schädel einschlägt.“ Als die Arbeiterinnen weiter auf ihrem Recht beharrten, schloß er das Verfahren mit den Worten: „Ihr werdet bald in Särgen zu Grabe getragen werden.“ Im Mai 1999 wurden die Frauen entlassen. Besagte Firma belieferte übrigens Firmen wie Nike, Adidas und Puma, Fila, Gap und Timberland.

Gesetzesfreier Wildwestkapitalismus

Bei diesen Beispielen handelt es sich nicht um Einzelfälle. Weltweit arbeiten fast 24 Millionen Menschen in der Textilindustrie; zu 80 bis 90 Prozent sind es Frauen. Etwa fünf- bis zehnmal soviel sind noch im sogenannten „informellen Sektor“ beschäftigt, als Näherinnen in ausgelagerten Betrieben oder als Heimarbeiterinnen, schreibt Tanja Busse in Die Einkaufsrevolution. „Für die überwiegende Mehrheit von ihnen sind Arbeitsrechtsverletzungen an der Tagesordnung“, zitiert sie Ingeborg Wick vom Südwind-Institut in Siegburg, die seit langem die Arbeitsbedingungen der Textilarbeiterinnen beobachtet. „Das hat nicht die Dimension eines Vorarbeiters, der einer Näherin auf den Po schlägt“, sagt Christiane Schnura, Leiterin des deutschen Büros der Kampagne für Saubere Kleidung. „Es geht darum, daß Frauen bei dieser Arbeit sterben.“ Viele Frauen müssen so lange arbeiten, daß sie keine Chance haben, sich um ihre Kinder zu kümmern. Sie bleiben bei den Großeltern auf dem Land zurück.

Besonders problematisch sind die ca. 5'000 Exportproduktionszonen, auch Freihandelszonen genannt, die es überall in armen Ländern gibt. Sie locken mit Steuer- und Zollvergünstigungen Investoren an, welche dort ungestört einen ge set zesfreien Wildwestkapitalismus betreiben können, der allen einigermaßen fair produzierenden Betrieben die Preise verdirbt. 42 Millionen Menschen schuften in solchen Zonen; die meisten davon gibt es in China.
Der Autorin Naomi Klein gelang es, trotz Verboten auf den Philippinen in eine solche Zone zu gelangen. Bei einem verbotenen Gewerkschaftstreffen bekam sie die Geschichte von Carmelita Alonzo zu hören, einer Arbeiterin, die „an Überstunden starb“. Carmelita arbeitete in einer Firma, die Kleider herstellte für Firmen wie Gap, Liz Clayborne und viele andere Marken. „Es standen große Lieferungen an, und niemand durfte nach Hause“, erinnert sich Josie. „Im Februar wurde eine Woche lang fast jeden Tag Nachtschichten angeordnet.“ Carmelita mußte nicht nur in diesen Schichten arbeiten, sie hatte auch einen zweistündigen Nachhauseweg zu ihrer Familie. Sie litt an einer Lungenentzündung – eine Krankheit, die in den tagsüber stickig heißen, nachts jedoch durch Kondenswasser feuchtkalten Fabriken häufig auftritt – und bat ihren Vorge set zten um einen Genesungsurlaub. Er lehnte ab. Schließlich mußte sie ins Krankenhaus eingeliefert werden. Sie starb am 8. März 1997 – dem Internationalen Frauentag.

Viele glaubten, auch ihnen könnte so etwas passieren. Naomi Klein hörte Klagen über militärähnliche Kontrollen, Repressionen, nächtelange Überstunden, mangelnden Arbeitsschutz, verschlossene Toiletten und zurückbehaltene Löhne.
„Die Furcht geht um in den Zonen“, schreibt Naomi Klein.1) „Die Regierungen haben Furcht, ihre ausländischen Firmen zu verlieren; die Fabriken haben Furcht, ihre Auftraggeber zu verlieren; und die Arbeiter haben Furcht, ihre unsicheren Arbeitsplätze zu verlieren.“ Bei soviel Furcht ist der Kunde uneingeschränkter König. „Die Unternehmen sind sosehr darauf bedacht, jegliche Verpflichtung zu vermeiden, daß sie Belegschaften kinderloser Frauen heranzüchten – ein System ungebundener Fabriken, in denen ungebundene Frauen arbeiten.“

Gerechtigkeit kostet 36 Cent

Doch was würde der westlich zivilisierte Mensch auch mit seiner Freizeit anfangen, könnte er sie nicht immer wieder mit Shopping-Orgien füllen? Und wie sollte ein Sportschuh für uns noch alle paar Wochen erschwinglich sein, wenn er nicht zu wirklich günstigen Preisen hergestellt würde? Denn für einen 100-Euro-Markenschuh erhält der Hersteller gerade mal 12 Euro, alles inklusive. Dieser Betrag schließt das Gehalt der Frau, die den Schuh genäht hat, mit ein – es sind 40 bis 50 Cent. „Würden etwa die 150'000 Textilarbeiter in Indonesien monatlich nur 11 Euro mehr verdienen, könnten sie davon nicht nur menschenwürdig leben, sondern auch ihren Kindern den Schulbesuch ermöglichen. Der Preis für einen Turnschuh stiege dabei lediglich um 36 Cent. So sind Kinder aber oft selbst zum Arbeiten gezwungen, weil das Familieneinkommen nicht reicht“, rechnen die Buchautoren Werner und Weiss vor. Auf Anfrage sieht sich beispielsweise Adidas außerstande eine „aussagefähige Durchschnitts-Kalkulation“ mitzuteilen, „da die Produktkalkulation stets verschiedene Gesichtspunkte berücksichtigen muß…“. „Bezogen auf den Verkaufspreis an den Endverbraucher liegt der Einzelhandelsaufschlag für einen Sportartikel in Deutschland zwischen 50 und 55 Prozent“, teilt Anne Putz von Adidas mit. Sprich, der Verkaufsladen verdient von den 100 Euro etwa die Hälfte. Bleiben Adidas also noch rund 38 Euro pro Paar – genug, um damit dem Schuh via Werbung ein Image zu verleihen, das heute den eigentlichen Wert ausmacht (siehe Artikel Seite 6). Plus die geheim gehaltene Gewinnspanne, die es doch ermöglichen sollte, den Frauen ein paar Cent mehr zu bezahlen – um aus einer elenden Existenz etwas zu machen, das den Namen Leben verdient.

Denn das ist vielleicht das Empörendste an der ganzen Misere: Daß es keinerlei Notwendigkeit dafür gibt. Der Anteil der Lohnkosten am Ladenpreis ist so gering, daß man diese selbst bei preisgünstigen Produkten verdoppeln könnte, ohne daß jemand auf den Kauf verzichten würde. Gerade auch bei Markenprodukten!

(…)

Im folgenden führt der Artikel einige bewegende Schicksale von ausgebeuteten Menschen an und nennt jene weltbekannten und großen Marken beim Namen, die sich noch immer zuwenig oder gar nicht für menschenwürdige Arbeitsbedingungen einsetzen.

Den ganzen Artikel finden Sie in unserer Druckausgabe Nr. 55 der Zeitenschrift, wie übrigens auch einen weiteren Artikel zum Thema, der die Scheinwelten der Labels entlarvt und aufdeckt, warum teure Markenprodukte heute oft nicht von besserer Qualität sind als der billigste Ramsch.

Quelle: http://www.zeitenschrift.com/magazin/55-kleider.ihtml

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